Ins Stadion gehen, mit Freunden ausgehen, einen Roadtrip planen - und deine Gedanken kreisen doch nur um öffentliche Toiletten? Wenn das auf dich zutrifft, leidest du mit hoher Wahrscheinlichkeit an Paruresis, auch bekannt als „schüchterne Blase“.
In diesem Beitrag möchte ich dir zeigen, wie du mit der richtigen Einstellung dieses Problem überwinden kannst.
Vorab ein kurzer Disclaimer: Ich bin weder Arzt noch Psychotherapeut. Ich habe eine Menge gelesen und viel gelernt, indem ich mit einem Psychologen an WeMingo gearbeitet habe, aber ich schreibe hier als persönlich Betroffener. Ich teile meine Erfahrungen und Gedanken, aber keine medizinischen Ratschläge. Als Nebeneffekt macht es das hoffentlich authentischer 😊
Jeder mit diesem speziellen Problem wird irgendwann an einen Punkt kommen, an dem er oder sie das Gefühl hat, dass „es so nicht weitergehen kann“. Für mich kam dieser Moment im Herbst 2014.
Ich frage mich, was ich noch vor 30 Jahren getan hätte, aber zum Glück haben wir heutzutage Google, um ganz anonym zu recherchieren.
Geteiltes Leid ist halbes Leid. Ich war erleichtert zu sehen, dass ich nicht der einzige mit diesem Problem war, sondern tatsächlich einer von weltweit vielen Millionen Betroffenen. Was mir nur nicht so klar war, wie sollte es jetzt weitergehen? Den Tab schließen, das Problem weiter so gut es geht ignorieren?
Ich habe eine Weile gebraucht, um aktiv zu werden. Ich habe angefangen Bücher zu lesen, später an einem Workshop der IPA teilgenommen, auf Toiletten geübt…und meine Situation so schließlich verbessern können 🙌
Was kann ich dir also raten, wenn du gerade das Thema gegoogelt hast?
Ich glaube, der größte und wichtigste Schritt auf dem Weg zur Besserung ist die richtige mentale Einstellung. Für mich geht es dabei um die folgenden drei Erkenntnisse:
Wenn du gerade ein blödes Toiletten-Erlebnis hattest, fühlst du dich womöglich eingeschüchtert und hilflos. In einer solchen Situation fällt es natürlich schwer an dich selbst zu glauben. Aber selbst dann möchte ich dir sagen: du hast die Kraft zur Veränderung! Du hast dir die Angst auf öffentlichen Toiletten irgendwann einmal angewöhnt. Und genauso kannst du dir wieder angewöhnen, dass öffentlichen Toiletten eigentlich kein bedrohlicher Ort sind.
Ich will nicht behaupten, dass das ein einfacher Prozess ist, aber du kannst es schaffen. In der Psychologie gibt es die Theorie vom Fixed Mindset vs. Growth Mindset, die in diesem Zusammenhang relevant ist.
Wenn du dir denkst „naja, so bin ich halt, ich kann einfach nicht pinkeln, wenn andere in der Nähe sind“, dann bist du gefangen in einem Fixed Mindset, im Deutschen auch „statisches Selbstbild“ genannt. Ein solches statisches Selbstbild blockiert deine Genesung. Wenn du nämlich denkst, dass die Paruresis ein unveränderlicher Teil deiner Persönlichkeit ist, dann fehlt dir die Motivation, um tatsächlich an dem Problem zu arbeiten.
Ich möchte dich also ermutigen ein Growth Mindset einzunehmen:
„Ja, ich habe dieses Problem, aber ich kann etwas tun, damit es mir wieder besser geht“
Das Überwinden der Paruresis braucht Zeit.
Du hast dir deine Angst auf öffentlichen Toiletten über Jahre oder gar Jahrzehnte angewöhnt, sodass du diese Gewohnheiten nicht kurzfristig durch neue ersetzen kannst. Ich empfehle, sehr skeptisch zu sein, wenn jemand etwas anderes behauptet. Auch viele verbreitete Tricks sind mit Vorsicht zu genießen, weil sie meiner Meinung nach nicht zu einer nachhaltigen Besserung führen (mehr dazu in „Tipps & Tricks“).
Dieser Abschnitt soll dich jedoch nicht entmutigen! Du wirst für deine Bemühungen nicht erst belohnt, wenn du ganz von der Paruresis „geheilt“ bist (wie auch immer das definiert sein mag). Selbst kleine Verbesserungen können deine Lebensqualität erheblich verbessern. Darauf solltest du dich konzentrieren und immer neue Motivation daraus ziehen.
Last but not least: Es ist wichtig zu verstehen, warum du dich lieber jetzt als später dem Problem stellen solltest.
Ein Merkmal der Paruresis ist, dass sich die Angst und der damit verbundene Leidensdruck in der Regel stetig erhöhen. Der Grund dafür ist das sogenannte Vermeidungsverhalten.
Wenn wir öffentliche Toiletten erst einmal als unangenehm oder sogar bedrohlich abgespeichert haben, entwickeln wir automatisch Strategien, um dieser Situation so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Ich bin mir sicher, dass dir ein paar dieser verbreiteten Vermeidungsstrategien bekannt vorkommen werden:
Das Problem mit all diesen Strategien ist, dass sie tatsächlich kurzfristig deine Anspannung vermindern. Jedes Mal, wenn du es irgendwie schaffst, den Toilettengang zu vermeiden, fühlst du erst einmal Erleichterung. Wenn man so will, belohnst du dich für dein Vermeidungsverhalten. Mit der Zeit verinnerlichst du dadurch aber, dass öffentliche Toiletten tatsächlich eine Bedrohung sind und man sie tunlichst vermeiden sollte.
Ganz offensichtlich ist das keine nachhaltige Lösung. Du wirst letztendlich immer größere Einschränkungen in Kauf nehmen und dich immer mehr isolieren. Wenn es dann doch einmal eine Situation gibt, in der du den Besuch einer öffentlichen Toilette nicht umgehen kannst, wirst du nur umso größere Angst verspüren.
Sei dir dessen bewusst und gib dich nicht der Versuchung des Vermeidens hin.
Nachdem wir uns nun mit der richtigen Einstellung befasst haben - was kannst du tun, damit es dir besser geht?
Zunächst einmal solltest du das Problem genau verstehen. Prof. Hammelstein schreibt in seinem Buch „Lass es laufen!“:
„Stellen Sie sich Ihre Paruresis als Ihren Gegner vor, den Sie überwinden möchten. Hierzu ist es notwendig, Ihren Gegner bestens zu kennen.“
Informiere dich über die Funktionsweise der Blase und warum du sie nicht dazu zwingen kannst, Urin abzuführen.
Danach solltest du dich mit den Konzepten der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) vertraut machen. Die KVT ist das Mittel der Wahl für viele Angststörungen und auch für die Paruresis die gängige Behandlungsmethode. Die Studienlage bezüglich der Effektivität der KVT für Paruresis ist noch dünn, aber vielversprechend. In einer Studie von Prof. Hammelstein erfüllten 80% der Teilnehmer nach 12 Sitzungen nicht mehr die Kriterien einer klinisch bedeutsamen Paruresis.
Die grundsätzliche Idee bei der KVT ist, dass unsere Gedanken unsere Gefühle und unser Verhalten entscheidend beeinflussen.
Das Problem von Menschen mit Paruresis ist, dass sie oft übermäßig negative Gedanken haben, die ihre Angst aufrechterhalten. Eine der wichtigsten Methoden der KVT ist daher das Identifizieren und Ersetzen dieser negativen Gedanken.
Sobald deine Wahrnehmung von solchen Denkfehlern befreit ist, kannst du dein Verhalten an deine neue Sichtweise anpassen. Was heißt das konkret für die Paruresis? Mit dem Wissen, dass deine Ängste überhöht waren, kannst du dich behutsam mit öffentlichen Toiletten konfrontieren. In Fachkreisen wird dieser Prozess schrittweise Exposition genannt. Indem du deine Ängste aushältst und erfährst, dass deine Befürchtungen nicht eintreten, kannst du deine Angst schließlich reduzieren.
Der vorhergehende Abschnitt ist nur eine kurze Zusammenfassung der KVT. Du kannst dir weiteres Wissen in Büchern aneignen, aber idealerweise arbeitest du mit einem Psychotherapeuten zusammen, der sich auf die KVT spezialisiert hat. Wenn dir das "eine Nummer zu groß" erscheint oder du zunächst alleine an dem Problem arbeiten möchtest, kann dir WeMingo wertvolle Unterstützung bieten.
Du brauchst Geduld und Ausdauer, um die Paruresis zu überwinden, aber du kannst es tun - es lohnt sich! Am besten überlegst du noch heute, was der erste Schritt auf deinem persönlichen Weg zur Besserung ist.