Ist es dir schon einmal passiert, dass du nicht pinkeln konntest, obwohl du eigentlich dringend „musstest“? In diesem Artikel erkläre ich, was es mit der „schüchternen Blase“ auf sich hat. Es ist ein ausführlicher Einstieg für alle, die sich erstmals mit dem Thema auseinandersetzen möchten.
Zunächst einmal: Es gibt mehrere Gründe, warum man trotz voller Blase nicht pinkeln kann. Wenn das Problem aber immer nur dann auftritt, wenn andere in der Nähe sind, handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine spezielle Angststörung.
Der medizinische Name für diese Angststörung lautet Paruresis. Auch wenn kaum einer diesen Begriff kennt, ist es alles andere als „unnormal“ mit dem Problem zu leben. Man geht davon aus, dass allein in Deutschland ca. 1,5 Millionen Menschen davon betroffen sind.
In diesem Beitrag gehe ich davon aus, dass deine Probleme beim Wasserlassen psychisch bedingt sind. Es ist trotzdem ratsam, sich einer Untersuchung durch einen Urologen zu unterziehen, um körperliche Ursachen auszuschließen. ⚠️
Die Paruresis ist psychisch bedingt. Auslöser für deine Pinkel-Hemmung sind mehr oder weniger unterbewusste Ängste. Auf diese Ängst reagiert dein Körper mit verschiedenen Maßnahmen, die dich auf den Kampf oder die Flucht vorbereiten (Stichworte: Säbelzahntiger und Sympathikusaktivierung). Dann atmest du schneller, deine Herzfrequenz erhöht sich…und deine Blasenschließmuskel spannen sich an, sodass du nicht mehr pinkeln kannst.
Für das Überwinden der Paruresis bedeutet das schon einmal: Wir müssen wir wieder lernen, Toiletten zu besuchen, ohne dass sich der „Kampf-oder-Flucht“-Modus aktiviert.
Am Anfang des oben beschriebenen Prozesses stehen also angstauslösende Gedanken und Gefühle.
Wie sehr du dir dieser Gedanken und Gefühle bereits bewusst bist, ist individuell verschieden. Vielleicht hast du einfach ein vages Gefühl von fehlender Privatsphäre verspürt. Vielleicht hast du aber auch schon sehr konkrete Befürchtungen entwickelt. Ein Beispiel für einen solchen Gedanken wäre folgende Annahme:
„Wenn jemand mitbekommt, dass ich nicht pinkeln kann, wird er mich auslachen!“
Bei diesen Gedanken geht es immer um die gefühlte Beobachtung durch andere Personen, weshalb die Paruresis manchmal auch zu den Sozialen Phobien gezählt wird.
An dieser Stelle sei schon einmal gesagt: die damit verbundenen Befürchtungen sind in der Regel stark übertrieben. Zudem ist auf einer öffentlichen Toilette jeder viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um andere Menschen zu beobachten. Wie ich in meinem Artikel „Wie überwinde ich die Paruresis?“ beschreibe, werden sich diese Erkenntnisse übrigens noch als wichtige Bausteine für das Überwinden der Paruresis erweisen.
Der folgende Abschnitt ist ein Auszug aus meinem Online-Selbsthilfeprogramm, in dem ich genauer erkläre, welche physiologischen Prozesse dazu führen, dass kein Urin mehr abfließen kann.
Auch wenn die Paruresis als Angststörung vor allem mit psychischen Vorgängen zu tun hat, ist es doch wichtig zu verstehen, welche körperlichen Abläufe der Paruresis zu Grunde liegen. Daher schauen wir uns in diesem Modul die Funktionsweise der Harnblase an.
Die Blase hat im Prinzip zwei Aufgaben: Urin zu speichern und Urin abzugeben. Das Speichern ist relativ einfach. Durch den Harnleiter wird der Blase Urin von den Nieren zugeführt, wodurch diese sich mit steigendem Inhalt ausdehnt. Innerer und äußerer Schließmuskel stellen dabei eine Art Abflussventil dar. Sie sind im Speichern-Zustand angespannt (Abbildung links) und stellen so sicher, dass Urin nicht unbeabsichtigt ablaufen kann.
© bilderzwerg / FotoliaAb einem gewissen Füllstand vermelden Rezeptoren dem Gehirn, dass es Zeit ist, sich zu entleeren. Wir sagen dann “die Blase drückt”. Das Entleeren ist ein etwas komplexerer Vorgang. Dafür muss die Blase zunächst Druck aufbauen, indem sie sich zusammenzieht. Zeitgleich müssen die “Abflussventile” geöffnet werden bzw. sich die inneren und äußeren Schließmuskel entspannen.
Genau dieser letzte Schritt kann für einen Paruretiker jedoch zur Herausforderung werden.
Warum das Entspannen der Schließmuskel so schwierig sein kann
Die Steuerung des inneren Schließmuskels obliegt dem sogenannten vegetativen Nervensystem. Das vegetative Nervensystems ist dafür zuständig, bestimmte automatisch ablaufende Vorgänge im Körper zu regulieren. Dazu gehört beispielsweise die Kontrolle und Anpassung des Herzschlags und unserer Atmung. Solche Prozesse können vom Menschen nicht willentlich beeinflusst werden und damit entziehen sich auch die Blasen-Schließmuskeln unserer Kontrolle.
Ob die Schließmuskeln entspannt oder angespannt sind, hängt wiederum davon ab, welcher Teil des vegetativen Nervensystems aktiv ist: das parasympathische oder das sympathische Nervensystem. Beim Parasympathikus und dem Sympathikus handelt es sich um zwei Gegenspieler, die - vereinfacht gesagt - die körperliche Balance zwischen Anspannung und Entspannung steuern.
Im entspannten Zustand (Normalzustand) dominiert der Parasympathikus, während sich der Sympathikus bei Gefahr oder Anspannung aktiviert. Die Sympathikusaktivierung bereitet uns auf eine “Kampf-oder-Flucht”-Situation vor: Der Puls schlägt schneller, die Atemfrequenz erhöht sich und die Schließmuskeln spannen sich an.
Wie eingangs erwähnt ist dies die Krux bei der Paruresis: Das sympathische Nervensystem aktiviert sich fälschlicherweise beim Aufsuchen von öffentlichen Toiletten. Anders ausgedrückt befindet sich der Körper in dieser Situation im falschen Modus. Erst wenn der Parasympathikus wieder die Kontrolle übernimmt, kann sich die Anspannung von Blase und Schließmuskeln umkehren und damit wieder Urin aus der Blase abfließen.
Um die Sympathikusaktivierung zu vermeiden ist es zunächst erforderlich an den angstauslösenden Gedanken zu arbeiten. Mein Selbsthilfeprogramm führt dich durch diesen Prozess und hilft dir so deine Angst zu reduzieren.