Dass Paruresis noch immer ein Tabuthema ist, verdeutlicht sich, wenn wir die öffentliche Wahrnehmung sowie das mediale Interesse der tatsächlichen Verbreitung gegenüberstellen. Aus wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass etwa 3% der Bevölkerung in Deutschland an einer behandlungsbedürftigen Paruresis leidet. Mehr als 1,5 Millionen Menschen schränken sich demnach erheblich ein, weil sie nicht oder nur schwer auf öffentlichen Toiletten urinieren können – eine Tatsache und somit eigentlich von öffentlicher Relevanz. Doch so einfach ist es nicht. Ein Überblick zur medialen Verbreitung von Paruresis.
Wer im Internet Informationen über Paruresis sucht, wird schnell feststellen, dass es sich hierbei um ein gesellschaftliches Tabuthema handelt. Ähnlich schwierig sieht in der Wissenschaft aus. Zwar beschäftigen sich Forscher bereits seit den 50er Jahren mit der Angststörung Paruresis, doch im Vergleich zu anderen Störungen ist die Studienlage dünn. So verweisen beispielsweise Hammelstein et al. (2011)* für die weitere wissenschaftliche Einordnung in ihrer Studie auf 27 Untersuchungen, deren Forschungsziel explizit auf Paruresis abzielt. Bislang fehlt es jedoch an großangelegten Studien, bei denen z. B. explizit untersucht wird, welche Behandlungsmethoden im Vergleich am Besten wirken. Hierbei spielt es sicherlich auch eine Rolle, dass nur wenige Betroffene sich trauen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Doch klar ist auch: Selbst wenn ein Thema von wissenschaftlicher Relevanz ist, heißt das nicht, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung präsent sein muss. Hierfür können mehrere Faktoren verantwortlich sein, beispielsweise die gesellschaftliche Relevanz. Doch woran liegt es, dass Paruresis bisweilen kaum in der Öffentlichkeit thematisiert wurde? Hierbei spielt zum Teil auch die sogenannte „vierte Gewalt“ (Medien), eine Rolle. Nach dem etwas flapsigen Motto: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, wissen viele einfach nicht, dass es wissenschaftliche Untersuchungen zu einem Thema X gibt.
Zudem kann man sich fragen, welche Rolle die Medizin bzw. Pharmaindustrie spielt. Im Gegensatz zu bekannten Krankheiten, wo Millionen Forschungsgelder für neue Medikamente ausgegeben werden, tendiert das Interesse der Pharmaindustrie in unserem Fall von Paruresis nahezu gegen Null – eine logische Tatsache? So könnte man es formulieren, denn eine „Wunderpille“ respektive irgendein erfolgsversprechendes Medikament gibt es für Paruresis nicht.
Apropos gesellschaftliche Relevanz: Hierbei spielt sicherlich auch der „Zeitgeist“ eine große Rolle. Wenn wir in die Vergangenheit schauen, gibt es immer wieder Beispiele, wo Themen kaum Beachtung geschenkt wurde – z. B. Aufklärung über Sexualität im 20. Jahrhundert. Sogenannte Tabuthemen gab es schon immer, und dazu reiht sich Paruresis in unserer heutigen Zeit nahtlos ein. Es ist ein derart intimes Thema, dass der entscheidende Sprung von Wissenschaft zur medialen Verbreitung bisher schlicht weg ausgeblieben ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass es für beispielsweise für soziale Phobien einen gut organisierten Bund- bzw. Landesverband gibt, für die Angststörung Paruresis jedoch leider nichts dergleichen existiert. Hier sind Betroffene bisweilen auf sich alleine gestellt.
Auch wenn die meisten Menschen mit dem Begriff Paruresis nichts anfangen können, gibt es dennoch viele „Einträge“ im Word Wide Web. Eine Suche bei Google ergibt 92.900 Treffer. Ganz oben gelistet – der Wikipedia Eintrag zu Paruresis. Dieser ist allerdings eher spärlich vorhanden, was unseren Eindruck weiter festigt: Paruresis ist weitestgehendst ein Tabuthema. Das gleiche Bild bei der Videoplattform YouTube: Wenn man „Paruresis“ in die Suchmaske eingibt, zeigt YouTube knapp 2.400 Treffer. Für heutige Zeiten ist das wenig. Wenn wir darüber hinaus die englischsprachigen Videos ausklammern, gibt es kaum bis gar keine Videos, die einen wirklichen Mehrwert liefern, und gleichzeitig aus dem deutschsprachigen Raum stammen.
Aber wie sieht es mit den sogenannten „Mainstreammedien“ aus? Inwieweit haben sie sich bisher mit Paruresis beschäftigt? Wenn ca. 3% der Bevölkerung in Deutschland von Paruresis betroffen sein sollen, müsste das Thema eigentlich von gesellschaftlicher Relevanz und damit für Medien interessant sein. Doch das ist es nicht: Lediglich ein paar wenige Ausnahmen seitens privater Nachrichtenseiten und Boulevardplattformen deuten auf das Problem Paruresis hin. In diesem ZEIT-Artikel von 2010 wird Paruresis als Tabuthema tituliert, bei dem ein typischer Erfahrungsbericht eines betroffenen Paruretikers nachskizziert wird.
Nicht wirklich für die Brisanz des Themas treffend, aber typisch für ein Boulevardblatt, tituliert dagegen der Stern: „Pinkeln mit dem Therapeuten“. Darin wird Paruresis jedoch nur sehr knapp beschrieben, wobei das sicherlich auch damit zu tun hat, dass der Artikel 2003 veröffentlicht wurde.
Weitere Anhaltspunkte findet man in diesem WELT-Artikel (2008) bzw. in diesem allgemein gehaltenen NTV-Beitrag (2011). Zudem existiert bislang ein einminütiger Videobeitrag vom FOCUS (2014). Darin wird das Problem mit der Paruresis in der Öffentlichkeit und für die Betroffenen deutlich: In einem Werbespot denunziert der Hollywood-Schauspieler Robert Lowe Paruretiker als Verlierer, weil sie eben nicht auf öffentlichen Toiletten pinkeln können.
Auch wenn der Vergleich „Paruretiker = Looser, herunter gekommen vs. Nicht-Paruretiker = gut situiert, cool “ im Werbevideo nur als markante Metapher für die Werbebotschaft dienen soll, so zementiert es leider das Problem für Paruretiker: Letztere denken eh schon, dass es total unnormal und peinlich sei, nicht auf öffentlichen Toiletten pinkeln zu können und das andere Menschen genau diese Tatsache abwerten. Wenn Paruretiker diesen Werbespot sehen, könnten sie nur noch mehr verstört sein.
Kurzum: Eine satirische Werbeaktion, auf Kosten des Selbstwertgefühls von Millionen von Menschen bzw. „Opfern“.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die öffentliche Wahrnehmung von Paruresis entwickelt. In Anbetracht der bisherigen medialen Berichterstattung, fehlenden Verbandsaktivitäten (Lobby) warten Paruretiker bis heute vergebens auf tiefergehende Medienbeiträge, welche die öffentliche Wahrnehmung von Paruresis vergrößern würde. Dennoch wurzelt dieses Problem wohl schon bei den Betroffenen selbst. Paruresis ist speziell, so speziell, dass sich der große Teil von Paruretikern nicht traut, professionelle Hilfe zu suchen. Das wiederum könnte das Fehlen einer breiteren Studienlage sowie die dürftigen Medienbeiträge erklären.
* Hammelstein et al.(2011). Prävalenz von Paruresis in einer deutschen Repräsentativstichprobe. Zeitschrift für medizinische Psychologie, 20(3), p. 130. PDF-Download.